Die neue Völkerwanderung nach Europa by Schwarz Hans-Peter
Autor:Schwarz, Hans-Peter [Schwarz, Hans-Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
veröffentlicht: 2017-02-06T14:35:49+00:00
Wie will die EU ihre offenen Seegrenzen am Mittelmeer schließen?
Weshalb es nicht fair ist, die Probleme an der mittelmeerischen EU-Außengrenze allein Griechenland und Italien anzulasten, haben wir schon erörtert. Man muß diese beiden Länder in einem Atemzug nennen, denn sie haben dieselben Probleme und bereiten der EU dieselben Sorgen. Sie sind Opfer der Geographie, Opfer der problematischen Nachbarschaft an der Gegenküste des Mittelmeers und Opfer des Flüchtlingsrechts, das die EU sich gegeben hat. Allerdings sind sie auch Opfer eigener Fehler. Ihre Regierungen haben sich vertragswidrig, wenn nicht gar arglistig verhalten, als die Fluchtbewegung übers Mittelmeer Menschen in großer Zahl an ihre Küsten brachte. Gewiß, Politik ist kein Geschäft für reine Seelen und Außenpolitik schon gar nicht. Gelegentliche Regelverstöße sind sozusagen eingepreist. Aber eine über drei, vier Jahre hinweg in großem Stil und ungeniert vor aller Augen praktizierte Strategie des »Durchwinkens« von mehr als einer Million Flüchtlinge ist eine Provokation. Das war nur möglich, weil Deutschland sich zunächst über die Maßen duldsam und dann selbst regelwidrig verhielt.
Je unkontrollierter die Flüchtlingsmassen wuchsen, umso unruhiger wurde die EU. Bis in den Sommer 2015 galt die gesammelte Aufmerksamkeit vor allem der Frage: Wie können die zivilisierten Länder Europas verhindern, daß Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrinken? Humanitäre Empfindungen waren hier maßgebend. Erst als der Kontrollverlust offenkundig wurde, begann ein Umdenken. Im Herbst 2015 hatte sich bei den Spitzenchargen der EU und bei der deutschen Regierung schließlich die Meinung durchgesetzt, entscheidend für die Wiederherstellung kontrollierter Verhältnisse sei die Sicherung der EU-Außengrenzen.
Das Problem, der Staatsräson, europäischer Supranationalität und universalistischer Humanität gleichzeitig gerecht zu werden, ist jedoch ähnlich unlösbar wie das mathematische Problem der Quadratur des Kreises. Will man das in den Verträgen verankerte Flüchtlingsrecht nicht antasten, spricht vieles dafür, eine rechtlich korrekte Überprüfung der Asylanträge an die Seegrenzen der Mittelmeerländer zu verlagern. In den Vorschlägen der Kommission spielte somit die Forderung nach Errichtung von sogenannten Hotspots schon früh eine große Rolle, also von Sammelstellen an den Brennpunkten der illegalen Einwanderung – auf Lampedusa, auf Sizilien, auf den der Türkei vorgelagerten Ägäis-Inseln, doch auch auf dem italienischen und griechischen Festland. Soll man sie Versorgungszentren, Sammellager, Kontrollstationen, Verteilungszentren, Abschiebeeinrichtungen oder provisorische Internierungslager nennen? Offenbar verbinden sich damit so viele widersprüchliche Vorstellungen, daß die unverfängliche Bezeichnung »Hotspots« am unanstößigsten erscheint.
In diesen »Hotspots« soll dreierlei gewährleistet werden. Ein erstes Ziel ist die ordnungsgemäße Registrierung der Flüchtlinge (Anfertigung von Fotografien, Abnahme der Fingerabdrücke, Überprüfung der Identität unter Einsatz von Eurodac und anderen Systemen). Nur so lassen sich die Dublin-Vorschriften korrekt umsetzen, daß jeder Ankömmling prinzipiell in dem Land einen Asylantrag zu stellen hat, in dem er erstmals EU-Boden betritt und in dem er auch betreut werden muß. Weshalb Italien und Griechenland diesem Wunsch widerstrebten, liegt auf der Hand: Sie fürchteten und fürchten noch immer, die Option zu verlieren, einen großen Teil weiterzureichen, also auf einer großen Zahl von Flüchtlingen sozusagen sitzenbleiben. Will die EU diese Widerstände überwinden, muß sie erhebliche finanzielle Leistungen einplanen.
Das zweite Ziel ist teils humanitär, teils praktischer Natur. Die Unterbringung der Flüchtlinge in Griechenland und Italien läßt sehr zu wünschen übrig.
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